Nach Kriegsende wohnte Emil Falinski mit seiner Familie auf dem Hof. Im Interview (Februar 2023) erinnert er sich an die Zeit, den Neustart und Omas Pflaumenkuchen.
Wie bei Brands ein neues Leben beginnt
Emil, erzähl einmal: Was hat Dich auf unseren Hof geführt?
Eine lange Geschichte. Ich versuch‘s, kurz zu halten: Wir sind nach dem verlorenen Krieg aus unserem von den Polen eroberten Dorf vertrieben worden. An einem Tag kamen die Polen an und sagten: Ich nehme den, den, den. „Und ich nehm‘ dich“, sagte einer zu mir und nahm mich mit in seine Familie. Meine Mutter wusste nicht, wo ich war. Ich hatte es eigentlich ganz gut getroffen, sie haben mich gut behandelt, nie geschlagen. Aber – und das war für ein Kind ganz schlimm: In der Ecke stand ein Schemel. Und während die Familie da bei Tisch saß und aß, musste ich da in der Ecke sitzen. Das tat so weh, wenn man so erniedrigt wird.
Das fühlst du bis heute?
Ich habe lange geglaubt, nichts wert zu sein. Das hat sich erst bei Brands geändert. Aber dazu später. Nochmal zurück: Ich habe bei den Polen Kühe und ein paar Schafe hüten müssen. Eines Tages zog ich mit den Tieren über die freien Flächen, da hörte ich meinen Namen. Ich erschrak: Die Stimme kennst Du doch?! Tatsächlich: Da war das meine Tante, die jüngste Schwester meiner Mutter, die zufällig im selben Ort war. Über sie kam ich dann wieder in Kontakt mit meiner Mutter. Ich hatte schon geplant, stiften zu gehen. Aber nun durfte ich zu meiner Mutter – und mit ihr und den Geschwistern zurück nach Deutschland.
Wie ging es dort weiter?
Wir sind erst nach Stettin ins Lager gekommen. Von dort sind wir über Brandenburg nach Brakel. Von dort sind wir – immer nur für ein paar Tage – nach Steinheim, Rolfzen, dann nach Thienhausen.
Habt ihr euch diese Ziele ausgesucht oder wurdet ihr zugewiesen?
Man wurde zugewiesen, die Höfe und Güter mussten Flüchtlinge aufnehmen. Wir kamen so 1949 nach Schloss Thienhausen. Aber eben nicht ins Schloss. Wir wohnten erbärmlich. Am Pferdestall war ein Schuppen, keine 30 Quadratmeter groß, wo wir zu sechst hausten, meine Eltern und wir vier Geschwister. Küche, Schlafzimmer, daneben standen die Pferde.
Und draußen ein Plumpsklo?
Schön wär’s gewesen. Es gab die Miste und den Wald. Aber immerhin gabs genug zu essen: Steckrüben, Kartoffel, mal ´nen Liter Milch.
Luxus für euch?
Jaaaa, wir hatten was Schönes im Bauch. Im Lager in Stettin gabs Wasser- oder Graupensuppe, die nicht gar war. Schon im Lager bettelten wir Jungs darum, arbeiten zu können. Dann bekam man mehr Essen. Dagegen hatten wir es in Thienhausen schon gut. Aber es traf uns bald noch besser.
Wie kam deine Familie dann nach Hagedorn?
Da war eine befreundete Familie in Hagedorn, die wir besuchten. Sie erzählten uns, dass nebenan bei Brands eine vernünftige Wohnung freiwürde. Da ist mein Vater rübergegangen zum Opa und hat gefragt, ob man einziehen könne. Und der Opa sagte: „Aber nur, wenn Du bei uns als Knecht arbeitest“. So sind wir hierhin gekommen.
Was ist deine erste Erinnerung an den Hof?
(Emil lacht auf einmal ein breites Grinsen) Herrlich! Ich habe immer gesagt: Meine Kindheit hat man mir durch Krieg und Flucht gestohlen, aber hier bin ich wieder als Jugendlicher, als Mensch anerkannt und einfach aufgenommen worden.
Kannst Du den Tag schildern, als Du hierhergekommen bist?
Wir sind mit dem Fuhrwerk von Brands über den Stoppelberg, davor die Pferde Bella und Schella, Mutter und Tochter. So sind wir da eingezogen. Vater bekam als Knecht ein bisschen Geld, das war beim Bauern ja knapp. Aber wir bekamen auch ein Schweinchen, ein Stück Garten, wo jetzt der Hühnerauslauf ist. Da hatten wir ein gutes Auskommen.
Wie viele Menschen lebten damals auf dem Hof?
Juditzkys waren vier. Wir sechs. Krügers im Haupthaus, die waren auch zu viert. Und noch eine Frau mit zwei Kindern. Macht also 17 plus Brands.
Wie sah eigentlich der Alltag aus: Habt ihr im Laden bei Greulichs eingekauft? Was hat man überhaupt gekauft?
Man hatte ja vieles im Garten. Also kaufte man noch Salz, Zucker, manchmal Butter. Aber Michbauern wie Brands bekamen die von der Molkerei.
Kennst Du noch den Brotwagen?
Oh ja!
Neulich war jemand im Hofladen, der hat diesen gefahren. Und er erzählte: Der Bauer lieferte Getreide an die Mühle, der gab das Mehl dem Bäcker, der backte, das Brot gab´s am Brotwagen. Und dann gab es dort ein Buch, in dem festgehalten wurde, wie viel Brot der Bauer schon von seinem Getreide bekommen hat.
So wars! Jede Woche kam der Brotwagen, mit dem Pferdewagen.
Was fuhr sonst noch durchs Dorf?
Der Eiswagen. Und ein Scherenschleifer aus Bellenberg. Ein Leiterwagen. Und dann noch ein Klamottenaugust mit Jeans später im Kofferraum. Den schmiss man vorne raus – und dann kam er hinten wieder rein. Der hat immer verkauft, auch Nähgarn und so einen ganzen Bauchladen.
Emil, du hast gerade erzählt: Du hast in Hagedorn deine Kindheit und Würde wiederbekommen. Woran hast du das gemerkt?
Ich muss nochmal ausholen: Wir sind in Rolfzen zur Schule gegangen. Neulich fragte jemand: „Wie hast Du dich dort gefühlt?“ Ich sagte: Flüchtling und evangelisch, also doppelt schlimm. Wenn Religion war, mussten wir vorher nach Hause. Dann lief man dem katholischen Pastor, der unterrichtete, fast in die Arme. Ein furchtbarer Mensch, der uns Evangelische verspottete und abstrafte. Aber wenn ich dann nach Hagedorn kam, dann war ich einfach Mensch. Ich fühlte mich wohl, ich wurde nicht als aussätzig behandelt.
War dir einer oder eine der Brands besonders nah und wichtig?
Oma! Oma mochte auch später meine Frau, meine Kinder. Wir haben ein Leben lang eine gute Beziehung gehabt. Dazu muss ich was erzählen: 1985 hat unser Sohn sein Diplom in Landmaschinentechnik gemacht. Da kam er hierher. Oma ging in den Keller und kam mit einer Ente: „die Diplomente“. Das war so schön, da haben wir schon oft dran gedacht und darüber gelacht. Oma sorgte für Ordnung und – sie hatte so eine große Schürze – für was Gutes zu essen auf dem Tisch.
Gibt’s – über die Diplom-Ente hinaus – noch was, an das du dich gern erinnerst?
Die Abende waren schön! Ich kam 1953 bereits aus der Lehre. Um sechs war Schluss. Doch auf dem Hof wurde länger gearbeitet. Dann habe ich einfach gern mit angepackt. War Oma noch auf dem Hof, sagte ich: Gehen Sie rein, ich mache das. Ich habe das gern gemacht, auf dem Feld geholfen, bei den Pferden angepackt; ich bin ein Pferdeliebhaber. Hinterher gab es ein schönes Essen, ein schönes Stück Kuchen, was wir uns nicht leisten konnten.
Was backte Oma Brand?
Die konnte backen und kochen, alles! Oma machte schöne Kohlsalate, Pflaumenkuchen mit Pudding drüber, lecker.
Gab’s darüber hinaus schöne Rituale, auf die du dich gefreut hast?
Abends haben wir gern auch zusammen unter der Linde gesessen: haben Wanderlieder gesungen und am 1. Mai unter der Linde getanzt, nur unter uns, ohne Tanzboden. Getrunken wurde nichts. Mal ein Bier, das haben wir uns zu dritt geteilt, mehr konnten wir uns nicht leisten.
Hattest du trotzdem noch Heimweh nach deiner ostpreußischen Heimat – auch, als es dir in Hagedorn besser ging?
Ja, lange! Als ich meine Frau kennenlernte, eine Steinheimerin, fragte ich gleich: Wenn Ostpreußen je wieder frei und deutsch wird – gehst Du mit? Sie hat ja gesagt. Dann habe ich gesagt, okay, dann kanns was mit uns werden.
Eine Frage von riesiger Tragweite, findest Du nicht?
Ja, natürlich. Aber ich wollte ehrlich sein, ich wollte ihr nichts vormachen – ich wollte zurück. Es ist ja dann nicht so gekommen, ich bin hier gut angekommen.
Ein ganz anderes Thema: Du gehörtest damals, als du in Hagedorn wohntest, zu den Gründern der Feuerwehr. Wie kam es dazu?
Das war eine Vorgabe von oben: Jedes Dorf musste eine Freiwillige Feuerwehr gründen, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Und das haben wir gehört und gesagt: Da gehen wir hin. Wir waren vielleicht ein Dutzend junger Männer: Gottlieb war dabei, Potthast Hennrich, Düllmann, Frese, Diedel, Karl,…
Musstet ihr oft ausrücken?
Nein, ausgerückt sind wir zum Glück nicht oft. Wir hätten auch bei einem großen Brand nicht viel ausrichten können. Wir hatten anfangs nur eine tragbare Spritze, dann einen Anhänger. Wir haben aber viel, viel geübt: Wir wollten immer erste werden bei den Leistungswettkämpfen. 1957 haben wir auch gewonnen, da gibt’s noch ein Foto. Das war eine tolle Kameradschaft, da bin ich nochmal besser angekommen in Hagedorn. Als ich dann später nach Steinheim gezogen bin, bin ich nicht in die Feuerwehr. Da hat mir diese ganz besondere Kameradschaft, die ich aus Hagedorn kannte, gefehlt. Da waren Kollegen, die blickten wieder so herab auf mich.
Eine Laienerklärung: Wenn man einmal im Leben so fies behandelt worden ist, wird man dann sensibel und konsequent, was Kontakte anbelangt?
Ganz bestimmt. Werde ich betrogen oder belogen, ist es aus bei mir. Da bin ich wirklich empfindlich geworden. Und das habe ich auch meinen Kindern und Enkelkindern immer wieder gesagt: Man behandelt jeden gleich. Ob schwarz oder weiß, evangelisch oder katholisch, deutsch oder polnisch. Da muss ich noch eine Geschichte erzählen: Noch in Polen hatte ich mich mit einem polnischen Jungen gestritten und wir hatten uns mit Steinen beschmissen. Ich hatte ihn am Kopf getroffen. Da kam meine Tante und sagte: „Du entschuldigst dich jetzt bei dem Jungen und gibst ihm was von Deinem Ostergeschenk ab – denn er ist auch ein Mensch.“ Kameradschaft und Gerechtigkeit, das sind zwei ganz wichtige Dinge für mich. Das habe ich auch an meine Kindern weitergegeben.
Wie war das, als ihr hier weggegangen seid?
Das war schwer, sehr schwer.
Wie hat sich das entwickelt?
Mein Vater wollte bauen, einen Hof in Eichholz. Da fragte mein Vater: Machst du mit? Ich: Der Hof ist zu klein, das reicht nicht für zwei Familien. So haben wir dann nur ein Haus gebaut. Er wollte eigentlich in Hagedorn bauen. Das Gemeindeland war verpachtet. Und so wurde beim Gemeinderat abgestimmt, ob wir anderswo Land bekommen, aber da war einer dagegen. So hat Vater dann in Hagedorn nichts bekommen. Der hatte mit Opa Brand schon ausgeklüngelt, dass er ein Stück Pachtland von Brands für seine Nebenerwerbslandwirtschaft bekommt, aber das hat dann nicht geklappt.
Hat Euch das enttäuscht?
Nein, das war dann so. Wir sind mit drei Mann nach Steinheim zur Arbeit gefahren, so war es doch auch ganz praktisch, letztlich in Steinheim zu bauen. Ich habe dann 1963 selbst in Steinheim gebaut. Wobei ich sagen muss: Ich bin in Hagedorn mehr zuhause gewesen, obwohl mein Haus in Steinheim steht. Ich bin immer mehr in Hagedorn angekommen als in Steinheim, wegen der Gemeinschaft.
Weil es in der „Stadt“ anders ist als auf einem Dorf?
Ja, in der Siedlung waren wir alle gemischt, der eine kam hier-, der andere dorther. Wir mussten uns lange zusammenfinden.
Wie habt ihr dann den Kontakt nach Hagedorn gehalten?
Wir sind einfach vorbeigefahren, in den Kuhstall gestellt, geschwatzt.
Emil, neben dem Hofladen habe wir seit einiger Zeit eine ukrainische Flüchtlings-Familie untergebracht. Was kommen da für Gefühle hoch, wenn du das heute siehst?
Schlimm. Alles wiederholt sich. Die schlimmsten Gefühle kamen hoch, als ich neulich im Krankenhaus war. Ich war nur auf der Flucht in meinen Gedanken und Träumen.
Kommt die Angst besonders hoch, weil alles wieder im Osten stattfindet?
Ja! Und weil wir doch im Krieg sind, wenn wir Waffen liefern. Natürlich ist das ein zweischneidiges Schwert. Hätte man den Ukrainern nicht irgendwas in die Hand gegeben, der Russe hätte das Land schon überrollt.
Ein leichteres Thema: Mein Vater Reinhard war ja kuhverrückt. War Opa das auch?
Puh, das kann ich nicht so einschätzen. Er war eher der Pferdenarr. Morgens stand er schon früh auf und hat sie geputzt dort, wo später dann der Tiefstall war. Und wenn er sie anspannte, dann strahlte er.
Du hast ja mitbekommen, als der Stall umgebaut wurde. Ist das mit heutigen Projekten vergleichbar?
Das war ne große Maßnahme, riesig für die vergangene Zeit.
Fahrlässig, weil man gar nicht wusste, ob man das Geld auch später erwirtschaften würde?
Das war auf jeden Fall eine mutige Entscheidung, wie ich das einschätze. Aber heute hat das alles ja noch größere Dimensionen. Alles hat sich verändert, so ein Hof wie dieser hätte ja heute keine Chance, wegen des Preisdrucks.
Hast Du eigentlich je überlegt auch Landwirtschaft zu machen?
Hier nicht. Aber wenn ich tatsächlich zurück in den Osten gegangen wäre, dann ja!
Emil, am Anfang hast du gesagt, dir ist deine Kindheit geklaut worden. Hättest Du gern mit uns getauscht, die wir in der Gewissheit aufgewachsen sind, dass es immer besser wird, dass Frieden herrscht?
Ganz gerne. Man muss sich nur nochmal vorstellen: Wir hatten anfangs ein ganz kleines Zimmerchen in Thienhausen, die Mutter mit vier Kindern, das fünfte liegt im Wald, das ist auf der Flucht gestorben mit dreieinviertel Jahren, an Diphterie oder Scharlach. Meine Mutter hat sie dann in ein Schützengraben gelegt. Ein Opa war noch dabei, der hat aus zwei Ästen ein Kreuz geflochten. Das alles muss ein Kind doch nicht erleben. Grauenvolle Erinnerungen. Nein, meine alte Zeit, die war nicht gut – wie manche immer erzählen.
Warum, glaubst Du, hast Du das seelisch alles so überlebt?
Mein Glaube. Ich habe mich damals schon als Junge aufs Feld gesetzt und eine Steinburg, meine Kirche gebaut, mit Huflattich gepolstert. Da habe ich gebetet. Der Glaube hat mir auch einen Frieden gegeben mit den Menschen, die uns damals im Krieg Schlimmes angetan haben. Ich würde niemals rächen. Diskutieren vielleicht ja, aber niemals schlagen oder sonst was antun.